Natürlich wird heute niemand mehr bestreiten, dass es richtig und wichtig ist, die Atomenergie noch einmal streng daraufhin zu überprüfen, ob die heute schon geltenden Sicherheitsstandards ohne jede Einschränkung eingehalten werden, aber nach den bitteren Erfahrungen in Fukushima auch zu untersuchen, ob und in welchem Ausmaß in welchen Bereichen die Sicherheitsstandards angepasst und verschärft werden sollten und müssen. Und natürlich müssen/sollten wir versuchen, möglichst bald einen Ersatz für die Energieerzeugung in Atomkraftwerken zu schaffen, wenn und solange es nicht gelingt, das Restrisiko in der Atomwirtschaft auszuschalten.
Diese Erklärung zu Selbstverständlichkeiten muss heute wohl jeder vorausschicken, wenn er sich etwas differenzierter zu der gesamten Energiepolitik äußern will und verhindern möchte, gleich niedergemacht zu werden in der äußerst emotional geführten Diskussion um den zukünftig richtigen Weg. Aber nur die sachliche Auseinandersetzung mit dem Für und Wider unterschiedlicher Lösungsansätze wird zu vernünftigen Lösungen führen, die die berechtigten Sorgen und Ängste in unserer Bevölkerung nicht noch weiter schüren, aber auch die möglichen Belastungen für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand in die Entscheidungsfindung mit einfließen lassen. Angst ist schließlich ein sehr schlechter Ratgeber, und in einer hektischen Diskussion wird man kaum den sinnvollsten Weg finden können.
Ich möchte mich trauen zu dem „Ja, aber…“
Auch wenn wir uns noch so intensiv um den Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland bemühen wollen, wird das nicht so schnell gehen, wie uns das manche fanatischen Diskussionsteilnehmer glauben machen wollen. Dabei sollte es keine scheinheilige Lösung geben, die „relativ sicheren“ Atomkraftwerke in Deutschland abzuschalten und dafür günstigen Atomstrom aus Frankreich, Tschechien oder anderen Nachbarländern zu importieren, von Atomkraftwerken, deren Sicherheitsstandards sehr häufig unter denen in Deutschland liegen. Schon heute brauchen und importieren wir nach der Abschaltung der älteren Atommeiler Atomstrom aus dem Ausland.
Wenn wir also möglichst schnell aus der Atomenergie aussteigen wollen, reicht zur Erreichung dieses Zieles bei allen noch so großen Anstrengungen dafür dennoch für viele Jahre die Produktion von Wind- und Solarenergie oder auch anderen umweltfreundlichen Energiequellen nicht aus, auch wenn man sie noch so stark fordert und fördert. Schließlich brauchen wir die Absicherung einer relativ starken und verlässlichen Grundversorgung mit Strom für unsere Industrie, wenn wir nicht riskieren wollen, dass Industriefirmen bei Windflauten wegen fehlender oder nicht ausreichender Energieversorgung ihre Produktion drosseln oder gar zeitweilig stilllegen müssen. Schließlich kann ein hoch technisiertes VW-Werk wegen fehlender Stromversorgung nicht einfach für ein paar Tage die Produktion einstellen und ihre Mitarbeiter in den Zwangsurlaub nach Hause schicken. Wenn wir also die erforderliche Grundversorgung mit Strom sicherstellen wollen bei gleichzeitiger Reduzierung der Strommengen aus Atomenergie, dann müssen wir in den kommenden Jahren wieder verstärkt die Kohlekraftwerke hochfahren und neue Kohlekraftwerke bauen, wenn und soweit dafür Gaskraftwerke nicht zur Verfügung stehen.
Auch wenn bei Kohlekraftwerken der CO2-Ausstoß durch technisch hoch entwickelte Filter schon relativ stark reduziert werden kann, bleibt das Problem bezüglich der zunehmenden CO2-Belastung grundsätzlich bestehen.
Und kein Wissenschaftler kann heute ausschließen, dass die Folgen der CO2-Belastungen in der Atmosphäre langfristig nicht sogar sicherer und endgültiger zur Katastrophe für unsere Menschheit führen werden als die unbestrittenen Risiken bei der Nutzung von Atomenergie. Ganz nebenbei, ich riskiere den Vergleich: Bis zum heutigen Tage sind bei der Kohle- und Erdölförderung hundertfach, einschließlich des Kampfes um das Öl tausendfach mehr Menschen ums Leben gekommen als bei allen Unfällen in der Atomindustrie – Tschernobyl eingeschlossen. Wenn man nun aber im gesellschaftlichen Konsens wegen der unkalkulierbaren Risiken den Ausstieg aus der Atomindustrie will, dann muss man auch bereit sein, dafür ein ganze Reihe zweifellos vorhandener Nachteile in Kauf zu nehmen:
Der CO2-Ausstoß durch die bisherigen und neuen Kohlekraftwerke wird für viele Jahre deutlich steigen – mit den daraus resultierenden nicht kalkulierbaren Folgen. Trotzdem müssen wir bis auf weiteres unseren Widerstand gegen Kohlekraftwerke aufgeben, auch wenn sie in unserer näheren Umgebung gebaut und betrieben werden sollen, weil wir ohne sie die unverzichtbare Grundversorgung mit Energie nicht sicher stellen können. Und wir sollten uns bei den daraus resultierenden Gefahren wegen des höheren CO2-Ausstoßes nicht schon grundsätzlich gegen Untersuchungen wehren, die die Prüfung zum Inhalt haben, ob man die schädlichen CO2-Mengen nicht verflüssigen und in Kavernen verbringen und für eine theoretisch mögliche spätere Nutzung zwischenlagern kann.
Die Preise für Strom werden alleine wegen der hohen Investitionen in der Wirtschaft für regenerative Stromerzeugung erheblich steigen und die privaten Haushalte stark belasten.
Unsere Industrie wird bei der Belastung aus höheren Energiepreisen weniger leistungsfähig sein als heute und gegenüber dem Ausland an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Es steht zu befürchten, dass Unternehmen mit hohem Energieverbrauch aus Kostengründen ihre Produktionsstandorte in das Ausland mit günstigeren Energiepreisen verlagern und damit dann auch vor allem Arbeitsplätze in Deutschland verlorengehen. Die Bevölkerung muss mehr als heute bereit sein, oberirdische Stromversorgungsleitungen zu akzeptieren, denn die Investitionskosten für die Verlegung aller Stromleitungen in der Erde sind sehr hoch und würden die Strompreise noch einmal unverhältnismäßig stark in die Höhe treiben.
Es mag sein, dass Deutschland als Vorreiter beim Ausstieg aus der Atomindustrie in der Welt Nachahmer finden wird, aber sicher ist das keineswegs. Die Möglichkeit, dass weniger Atomstromerzeugung in Deutschland durch zusätzliche Kraftwerke im Ausland trotz Fukushima mehr als ausgeglichen wird, ist aus heutiger Sicht nicht weniger wahrscheinlich. Da wir in einer sehr globalisierten Welt leben, ist es nicht einfach und mit großen wirtschaftlichen Risiken verbunden, den Ausstieg aus der Atomenergie im Alleingang praktizieren zu wollen, ganz abgesehen davon, dass Atomkraftwerke an unseren Grenzen zu den Nachbarländern für uns nicht weniger gefährlich sind als unsere eigenen.
Die Darstellung der anderen Seite der Medaille sollte deutlich machen, wie wichtig es ist, in aller Ruhe und ohne Hektik nach der besten Lösung zu suchen. Auch wenn die Ethik und der gesellschaftliche Konsens bei der Suche nach der sinnvollsten Lösung an erster Stelle stehen müssen, sollten dabei die Konsequenzen und insbesondere auch die wirtschaftlichen Folgen nicht außer Acht bleiben.
Münkeboe, den 10.April 2011
Hilko Gerdes